Interview mit Geschäftsführer Stefan Becker zum Glasfaserausbau
Kritiker sprechen von »Wildwest«-Verhältnissen: Beim Glasfaserausbau im Kreis sorgen ein harter Verdrängungswettbewerb und Kooperationsvereinbarungen zwischen Kommunen und Unternehmen, die nach wenigen Wochen überholt sind, für Verunsicherung. Ja, es herrsche Chaos, räumt Stefan Becker, Geschäftsführer der Breitband Gießen GmbH, ein, die den Glasfaserausbau im Kreis koordiniert.
Erschienen in der Gießener Allgemeine am 10.02.2024 von Stefan Schaal
Herr Becker, in Pohlheim und Fernwald ist beim Glasfaserausbau gerade eine Situation eingetreten, die sich auch in anderen Teilen des Kreisgebiets abzeichnet: Ein neuer Anbieter grätscht mit TNG in den Markt, verzichtet auf Vorvermarktung und verdrängt so einen Wettbewerber, die Deutsche Giganetz. Würden Sie zustimmen, dass beim Breitbandausbau derzeit Chaos und Verunsicherung Einzug halten?
Ja, das würde ich schon sagen. In ganz Deutschland hat der Markt an Dynamik gewonnen, nachdem lange Jahre überhaupt nichts passiert war. Kapitalanleger, internationale Fonds haben neue Gesellschaften gegründet oder bestehende Telekommunikationsanbieter mit frischem Geld ausgestattet. Es ist ein Wettbewerb darüber entbrannt, wer im eigenwirtschaftlichen Glasfaserausbau die Infrastruktur baut. Es ist der Kampf um die Netze.
In Pohlheim sind Vertreter des Anbieters TNG von Haustür zu Haustür gezogen und haben Verträge verkauft, obwohl die Stadt Pohlheim eigentlich eine Kooperationsvereinbarung mit der Deutschen Giganetz geschlossen hatte.
Die Strategie von TNG ist in der umkämpften Marktsituation sicher angemessen. Aber den Vertrieb zu starten, ohne dass man das vorher mit der Kommune klärt, ist vorsichtig formuliert mindestens unglücklich. Das ist nicht gut gelaufen. Kilian Ortwein von TNG hat sich dafür kürzlich entschuldigt.
Die Beispiele in Pohlheim und Fernwald machen darauf aufmerksam, dass die in den Kommunen im Kreis Gießen geschlossenen Kooperationsvereinbarungen mit den Unternehmen nicht bindend sind und eine Exklusivität nur vorgaukeln. Nach Gesetz kann jeder Telekommunikationsanbieter in jedem Ort Glasfaser verlegen. Welchen Sinn haben dann die Kooperationsvereinbarungen?
Es ist der Versuch, überhaupt eine Bindung zwischen der Kommune und dem Unternehmen aufzubauen. Um einen Hebel in der Hand zu haben. Um einen Gesprächsfaden zu haben. Wir haben im Kreis 150 000 Haushalte; davon sind zwischen 10 000 und 20 000 bereits mit Glasfaser erschlossen. Die Telekom übernimmt nach jetzigem Stand zwischen 90 000 und 95 000. Wir schätzen, dass 20 000 bis 30 000 Haushalte durch die anderen Unternehmen ausgebaut werden. Wir wollen möglichst viel eigenwirtschaftlich, also auf Kosten der Unternehmen, ausbauen. Es geht beim Breitbandausbau um sehr viel Geld auch für die öffentliche Hand.
Um wie viel?
Im Moment bauen wir ja mit den Schulen die außen liegenden Gehöfte im Landkreis aus, mithilfe von Zuschüssen aus den Kommunen, vom Land und vom Bund. Das sind 1100 Haushalte, und es kostet 26 Millionen Euro, weil jeder Standort einzeln erschlossen werden muss. Der Bund geht in einer Studie von 10 000 Euro pro Haushalt an Kosten aus für die Standorte, die nach dem eigenwirtschaftlichen Ausbau übrig bleiben. Grob geschätzt und ohne belastbare Zahlen wäre man bei 15 000 Standorten dann bei 150 Millionen Euro.
Haben Sie Fehler gemacht in dem Versuch, Struktur beim Breitbandausbau im Landkreis zu schaffen? Kritiker sprechen von Wildwest-Verhältnissen.
Wir hätten sicher den Branchendialog, also unsere Markterkundung im Vorfeld, schneller durchführen müssen. Der Branchendialog lief mehr als ein Jahr. Ganz am Anfang haben wir ja gedacht, dass wir nur mit zwei Partnern ins Rennen gehen. Mit der Telekom. Und mit Liberty Networks, der Marke Hello Fiber, hatten wir ein zweites Unternehmen. Wir sind davon ausgegangen, dass wir mit beiden bis zu 95 Prozent im Landkreis ausbauen. Dann aber, kurz vor Weihnachten 2022, hat die Projektleiterin von Liberty Networks uns direkt am Tag einer Präsentation abgesagt. Der Finanzinvestor hatte beschlossen, dass ihm der Markt zu fragil sei. Kurz darauf war Hello Fiber pleite.
Noch mal zu den Kooperationsvereinbarungen: Hätte man sich die nicht auch sparen können? Man hätte doch sagen können: Leute, passt auf, der Glasfaserausbau startet, und diese Unternehmen sind seriös.
Es gibt Landkreise die das so gemacht haben. Die haben gesagt: Freies Spiel der Kräfte. Das Problem ist, dass das Bedürfnis der Menschen nach Steuerung nicht ganz ausgeblendet werden kann. Und wie gesagt geht es vor allem darum, eine Gesprächsebene zwischen den Kommunen und den Unternehmen zu schaffen. Ein Ziel ist außerdem, einen doppelten Ausbau von Haushalten, einen sogenannten Überbau, zu verhindern. Ein Überbau von Netzen wäre volkswirtschaftlich Wahnsinn.
Hat die Telekom eine unrühmliche Rolle beim Glasfaserausbau? Sie betreibt bei der Auswahl der Kommunen Rosinenpickerei.
Ich sehe das anders. Klar, es ist ein Konzern, die Flexibilität ist bei null. Aber die Telekom ist ein sehr verlässlicher Partner. Vor anderthalb Jahren hat sie erklärt, dass sie in der Größenordnung von 90 000 bis 95 000 Haushalten ausbaut. Dabei ist es geblieben. Und zur Rosinenpickerei: Die Telekom ist ein marktwirtschaftliches Unternehmen. Das ist nicht mehr die Deutsche Post.
Was stimmt Sie positiv beim Glasfaserausbau?
Es ist an alle Kommunen gedacht. Ich glaube, das können die Bürgermeister im Landkreis und die Landrätin für sich in Anspruch nehmen. Die Zusammenarbeit auf dieser Ebene ist hervorragend. Und die Situation ist aus Sicht der Gemeinden, aus Sicht der Bürger, viel besser als vor drei, vier Jahren. Da hätten wir zum Beispiel Fernwald noch voll gefördert ausbauen müssen. Vor drei, vier Jahren wollte in Fernwald kein Unternehmen etwas machen. Wir werden sehen. Noch leben wir beim Breitbandausbau ja in einer Zeit der Ankündigungen.
Verunsicherung durch wechselnde Anbieter
Angesichts der Verunsicherung durch wechselnde und mehrere Anbieter in den Kommunen im Kreis Gießen rät Stefan Becker, Verträge an Stellen und Shops abzuschließen, wo persönliche Ansprechpartner zur Verfügung stehen. Auch bei Info-Veranstaltungen nachzufragen sei empfehlenswert. »Wenn es schwierig wird, kann man uns oder der Gemeinde eine Mail schreiben.« Ab einem bestimmten Punkt allerdings »müssen die Leute ihre Entscheidung alleine treffen«.